Peak Lenin Expedition
Dass ein 7000er kein Kinderspiel werden würde, war mir klar. Trotzdem habe ich die zwei Wochen am Peak Lenin unterschätzt. Obwohl ich zuvor viele Erfahrungsberichte von Expeditionen gelesen hatte, war ich immer wieder mit Schwierigkeiten konfrontiert, die ich so nicht erwartet hätte. Und das ging nicht nur mir so. Viel Spass beim Lesen!
Gute zwei Monate war es her, als ich mich entscheid, mich auf dieses Abenteuer einzulassen. Zwei Monate gefüllt mit Vorbereitungen. Zuvor habe ich für fast ein Jahr kaum Sport betrieben. So war mein Hauptfokus dann auch, mich wieder auf Hochtouren zu bringen. Jetzt war ich im Hotel und vertrieb die letzten Stunden, bis es los gehen sollte. Als ich dann endlich meinen Expeditionsleiter Felix im Restaurant traf, war ich doch etwas über seine schmächtige Figur überrascht. Für jemanden, der schon auf so einigen 8000ern stand, hätte ich einen imposanteren Körperbau erwartet. Bei kirgisischen Pizzas, die geschmacklich nicht gerade mit italienischen mithalten konnten, klärten sich einige meiner Fragen zum Ablauf und insbesondere zur Akklimatisierung. Als wir zur letzten Expedition zu sprechen kamen, die ja wegen zu vielem Neuschnee abgebrochen werden musste, meinte Felix, dass zur gleichen Zeit zwei Bergsteiger in einer Lawine ums Leben kamen, wobei der Bergführer eigentlich erfahren gewesen sei. Wie ich später erfuhr, passierte dieses Unglück gerade mal 50 Meter vor dem dritten Camp.
Am Morgen darauf setzte ich mich zusammen mit Jarek und Magda, die ebenfalls der Expedition angehörten, sowie weiteren Bergsteigern in einen alten Bus und los ging die Fahrt in Richtung Base Camp. Während der Fahrt sprach ich mit einem jungen Russen, der versucht hatte, mit seinem Vater den Peak Lenin zu besteigen. Der Vater hatte jedoch bereits auf 4200 Metern Probleme mit der Höhe und erlitt starke Symptome bis hin zur Bewusstlosigkeit. Weil die beiden jedoch schon auf höheren Bergen waren, wollten sie trotzdem nicht glauben, dass es sich dabei um ernsthafte Probleme handelte. Erst im Spital in Osh, wo sie eigentlich nur kurz eine Überprüfung durchführen wollten, wurde dem Vater ein Lungenödem diagnostiziert und ihr Vorhaben musste abgebrochen werden. Nach einigen machten wir einen kurzen Stopp auf dem letzten Pass. Obwohl die Sicht eingeschränkt war, war im Süden doch klar eine weisse Spitze zu erkennen. Unser Berg, der Peak Lenin. Es ging weiter durch das Dorf Sary-Tash, wo ich ein knappes Jahr zuvor mit dem Velo war. Für eines beneide ich die Leute dort: für die Aussicht auf das Pamir-Gebirge. Während dieses ein Jahr zuvor hinter Wolken versteckt war, erschien es heuer in voller Pracht und ich freute mich wie ein kleines Kind. Bald schon verliessen wir die Strasse und fuhren über den wohl holprigsten Weg meines Lebens. Dann wurden die ersten gelben Zelte sichtbar. Willkommen im Base Camp.











Irgendwie habe ich mir das Base Camp doch etwas anders vorgestellt. Obwohl dieses auf 3600 Metern Höhe steht, war hier von Wildnis nicht viel zu spüren. Auf dem Klo gab es WC-Papier und Seife, was in Zentralasien doch eher eine Seltenheit ist. Neben den Duschen stand eine Sauna. Pünktlich um 21 und 7:30 Uhr erklang russische Kindermusik über Lautsprecher, welche mehr ans Disney Land als einem Lager für hartgesottene Bergsteiger erinnerte. Und wer in der Nacht aufstehen musste, hatte nicht etwa nach der Stirnlampe zu suchen, denn das Lager wurde konstant von Scheinwerferlicht geflutet. Beim ersten Abendessen wurde einem Bergsteiger gratuliert, der gerade vom Gipfel zurückgekehrt ist. Noch selten habe ich einen solch erschöpften Mensch gesehen. Er lag mehr auf dem Tisch als er an diesem sass. Sein Gesicht braun gebrannt. Wie würde ich wohl aussehen, sollte ich den Gipfel schaffen? Ich setzte mich kurz zu ihm und so erzählte er mir, dass am Gipfeltag all sein Wasser bis auf einen Liter gefroren war. Einen Liter für 16 Stunden. Nicht das letzte Mal, dass ich von solchen Problemen berichten hörte.
An den beiden darauffolgenden Tagen machten wir Akklimatisationswanderungen in der Nähe des Base Camps. Die erste mit Jarek und Magda, die zweite mit dem restlichen Team, welches einen Tag später eintraf. Und auch hier trog der Schein wieder: Als ich den 61-jährigen Jürgen aus dem Bus aussteigen sah, fragte ich mich, wie denn das nur gehen sollte. Auf der ersten Wanderung verflüchtigten sich diese Zweifel sogleich wieder, denn Jürgen machte einen der fittesten Eindrücke des gesamten Teams. Auf dem Rückweg rannte dieser einen steilen Hang hinunter, so dass sich hinter ihm nur so die Staubwolken bildeten. Neben Jürgen kamen auch Markus und die beiden Michaels aus Deutschland. Markus war auch ziemlich flott unterwegs und wir freundeten uns schon bald an. Abgerundet wurde das Team durch Felix und seiner Freundin Magda, welche als Co-Leiterin fungierte, sowie den beiden Bergführern Andre und Sascha aus Kasachstan, wobei Sascha erst später dazustossen sollte.
Am letzten Abend im Base Camp sprach ich mit zwei jungen Holländern, die es ebenfalls auf den Gipfel geschafft hatten. Als ich erwähnte, dass ich aus der Schweiz komme, meinte der eine mit der Hand auf den Gipfel weisend, dass dort oben auch ein Schweizer sei. Ich verstand nicht ganz, was er meinte und so erzählte er mir, dass dieser solo unterwegs und an Erschöpfung gestorben war. Von dieser Höhe werde man nicht mehr einfach so runtergeholt. Darauf führten die beiden aus, wie sie eine Stunde nach der tödlichen Lawine einige Meter neben der Bruchstelle hochgingen. Zuletzt folgte noch die Geschichte eines Mannes, der in seinem Zelt bei starkem Schneefall erstickte. Irgendwie schon ein krankes Volk, diese Bergsteiger.
Der Aufstieg zum Advanced Base Camp (ABC), zu jedermanns Verwirrung auch Camp 1 genannt, gestaltete sich einfach. Unser Gepäck wurde von Pferden, die nicht gerade glücklich aussahen, hochgeschleppt. Obwohl das Camp auf 4300 Metern liegt, ist der Weg dorthin und auch das Camp selbst schneefrei. Die Scheinwerfer, welche das Base Camp in der Nacht beleuchteten, fehlten hier und anstatt auf Wiesen standen die Zelte nun auf Stein. Der Peak Lenin, welcher vom Base Camp aus noch eher unscheinbar wirkte, ragte nun als eine 2800 Meter hohe Wand imposant im Hintergrund. Die zwei darauffolgenden Tage verbrachten wir mit einer weiteren Akklimatisationswanderung, bei der wir die 5000er-Marke überschritten. Dies hinderte Andre nicht daran, weiterhin seine Crocs zu tragen. Auf dem Gletscher führten wir zudem einige einfache Übungen durch, was wohl notwendig ist, da sich am Peak Lenin auch immer wieder Leute verirren, die zuvor noch nicht mal auf einer Hochtour waren. Etwa die Frau, die ich im ABC kennenlernte und mich so fragte, ob ich "stuff like this" schon gemacht habe.


















Michael, der sich seit der Ankunft im ABC nicht wohl fühlte und eine sehr geringe Sauerstoffsättigung hatte, stieg am zweiten Tag ins Base Camp ab. Auch sonst machte sich eine ungemütliche Spannung breit. Der zweite Bergführer Sascha hatte Probleme mit seinem Flug und war noch immer nicht im Base Camp angekommen. Solange wir nur einen Bergführer hatten, hätten alle umdrehen müssen, hätte jemand beim weiteren Aufstieg Probleme gehabt. Zudem hatte Sascha noch die Expeditionsschlafsäcke dabei, die wir spätestens ab 6000 Metern brauchen würden. Auch der Expeditionsplan warf Fragen auf: Macht es wirklich Sinn, auf 6000 Metern zu übernachten und dann zur weiteren Akklimatisierung wieder abzusteigen? Wie würden wir den Plan anpassen, falls das Wetter nicht so gut passen sollte, wie man sich das gerade ausmalte? Auch war uns inzwischen klar, dass wir nicht alle dieselben Voraussetzungen hatten. Wenn wir dann später in zwei Gruppen aufgeteilt werden und eines der Gruppenmitglieder ausfällt, würde die gesamte Gruppe umdrehen müssen.
So war ich denn auch nicht unglücklich, als um 2:45 Uhr der Wecker klingelte. Ziel des Tages war das Camp 2 auf 5400 Metern. Sascha hatte es in der Nacht tatsächlich noch mit der verbleibenden Ausrüstung zum ABC geschafft, was für uns alle eine Erleichterung war. Mit Stirnlampen ausgerüstet machten wir uns auf den Weg über den vorerst noch flachen und steinbesäten Gletscher. Gerade alleine waren wir dabei nicht. Vor und hinter uns zog eine Bahn von Lichtkegeln dahin. Bald schon überstiegen wir die ersten Gletscherspalten, die irgendwann so gross wurden, dass man sie nur noch mittels Leitern überqueren konnte. Aufgrund der vielen Leute ging es dort nur im Schneckentempo vorwärts und wir verloren sicherlich eine Stunde mit Warten. Eine Stunde, die uns schon ziemlich bald einheizen sollte. Als ich dann endlich an der Reihe war, ging es mit den Stöcken in der einen Hand und einem viel zu hohen Rucksack auf dem Rücken, der meinen Kopf dazu zwang, tief in die Spalte zu schauen, über das Hindernis. Eigentlich würde man meinen, dass man nach dem steilen Anstieg etwas flacheres Gelände begrüssen würde. Doch ohne Wolken am Himmel und bei völliger Windstille, waren wir nun völlig der Kraft der Sonne ausgesetzt. Unter meiner dünnen Jacke trug ich lediglich ein T-Shirt. Die Jacke trug ich nur noch, weil ich mir keinen Sonnenbrand holen wollte. Ich glaube nicht, dass ich jemals zuvor so langsam unterwegs war. Mein Rucksack, der wohl doch nicht ganz richtig eingestellt war, schnitt sich seitlich ein. Ich konzentrierte mich auf den Boden, damit ich nicht wissen musste, wie viele Meter noch zu schaffen waren.








Camp 2 befindet sich an einem Hang auf einem Gletscher. Das war nicht immer so. Doch nachdem eine Lawine, von einem Erdbeben ausgelöst, im grössten Unglück der Bergsteigergeschichte fast das komplette Camp 2 auslöschte, wurde es an diesen unwirtlichen Ort verlegt. Wir waren kaum angekommen, wurden wir Zeugen dessen, was die Höhe mit dem Menschen anstellen kann. Ein Mann lag halb in einem Zelt, umgeben von Leuten, die zu helfen versuchten. Eine Spritze wurde gezückt. "Two mats!", schrie einer. Unser Bergführer Andre sass sofort neben dem Erkrankten und half dabei, diesen mit Seilen auf die beiden Isomatten zu binden. "He has two hours", hörte ich jemanden sagen. Kollegen des Erkrankten standen dabei teilnahmelos zur Seite und mussten mehrere Male aufgefordert werden, sich für den Abstieg bereit zu machen. Viel zu viel Zeit war verstrichen, als sich die Gruppe, den Kranken in der Mitte schleppend, auf den Weg machten. Währenddessen ging der Alltag im Camp 2 weiter. Die Neuangekommenen ebneten sich mit Schaufeln einige Quadratmeter für ihre Zelte. Ich würde ein Zelt mit Markus teilen. Als unser Zelt stand, verabschiedete sich Markus sogleich und kurierte den restlichen Tag seine Magenprobleme aus. Diese verfolgten mich zwar seit dem Base Camp ebenso, aber abgesehen von einem schwankenden Unwohlsein kam ich bisher gut klar damit. So holte ich Wasser bei einem kleinen Bach und bereitete uns eine Beutelmahlzeit zu. Dabei machte ich eine unfreiwillige Entdeckung: Keinen Meter vom Zelt entfernt sackte ich mit meinem Bein ab. Ein Loch ohne Boden - unser Zelt stand auf einer Gletscherspalte und ich konnte froh sein, dass sich nur ein Bein verabschiedet hat. Andre machte die Richtung der Spalte mit einem Stock aus und erklärte unser Zelt als sicher. Doch zumindest einen Meter unter der linken Hälfte meiner Schlafmatte würde sich die nächsten zwei Nächte Luft befinden. Markus war sich am Morgen darauf sicher, dass er in der Nacht den Gletscher knacken hörte. Willkommen in Camp 2. Dem Camp, wo eine Abkürzung zum Klo deine letzte Abkürzung gewesen sein könnte.
Eigentlich war für den Tag darauf ein Nichtsmach-Tag angesagt. Am Morgen hiess es dann aber, dass wir auf 5800 Meter hochsteigen würden. Nachdem das steilste Stück überwunden war, begann es leicht zu schneien. Weit weg hörte man ein Gewitter. Weit weg wurde weniger weit weg und ich war kurz davor, Andre darauf anzusprechen, als wir auf etwa 5700 Metern umkehrten. Das gemütliche Tempo, das wir eben noch hatten, wurde zu einer "Rennerei" - halt das Tempo, dass in dieser Höhe im Schnee möglich ist. Immer lauter knallte der Donner und die Luft begann zu surren. Tipp: Das muss man nicht erlebt haben. Nachdem ich im Camp für das Nötigste gesorgt hatte, war Bett-Zeit angesagt. Draussen begann es wieder zu donnern. Das Gewitter kam immer näher bis zwischen erhelltem Zelt und Knall keine Sekunde mehr verging. Darauf begann es zu schneien und zu stürmen. Als ich mich später nach draussen wagte, waren die Wege kaum mehr sichtbar - in einem Camp mit Gletscherspalten nicht ideal. Es schneite die ganze Nacht durch und das Zelt wurde durch den Neuschnee seitlich stark eingedrückt, womit das eh schon knapp bemessene Zelt etwas zu kuschelig wurde. In Kombination mit Druck auf der Blase war das eine der vielen weniger erholsamen Nächte.
Auf dem Weg zum Camp 3 heizte zuerst wieder die Sonne ein. Erst als wir uns der 6000er-Grenze näherten, wich die gefühlte Hitze der Kälte. Die letzten 200 Höhenmeter waren so richtig steil und anstrengend. Andre ging mit einem ordentlichen Tempo voran und ich war bemüht damit, seinen gleichmässigen Rhythmus zu übernehmen und ihm Schritt auf Schritt zu folgen. Linker Fuss, rechter Fuss. Linker Fuss, rechter Fuss. Mehrmals holten wir andere Gruppen ein, die er dann in doppeltem Tempo überholte. Wenn ich ihm das gleichtat, dauerte es viel zu lange, bis sich mein Atem wieder stabilisierte. Nach etwa viereinhalb Stunden erreichten wir das Camp 3, das exponiert auf einem Hügel steht. Bis der Rest der Gruppe eintraf, hatten wir die meisten Zelte aufgestellt und ich machte mich daran, eine Klogrube zu graben. Das Schneeschmelzen nahm ziemlich viel Zeit in Anspruch. Oft fehlte mir in den Handschuhen das nötige Fingerspitzengefühl und ohne fror ich mir die Hände ab. Nachdem wir gespiesen hatten, legten Markus und ich uns hin - nur für zehn Minuten, wie wir Andre versicherten. Als er dann nach genau zehn Minuten wieder vor unserem Zelt stand und wir noch immer am Liegen waren, hatte er gar keine Freude an uns und machte uns klar, dass wir damit unsere Akklimatisierung untergruben. So entschieden wir uns, zusammen auf den daneben liegenden Peak Rasdelnaya zu gehen. Dessen Gipfel ist so flach, dass sich nach all den körperlichen Anstrengungen der letzten Tage mein erster 6000er-Gipfel irgendwie falsch anfühlte. Aber hey, ich stand auf meinem ersten 6000er! Die Nacht sollte wieder sehr unruhig werden. Die Luftfeuchtigkeit kristallisierte an der Zeltinnenseite und fiel bei jedem Windstoss als feiner Eisregen auf uns runter.
Inzwischen waren wir nur noch 5 Kilometer vom Gipfel entfernt. Trotzdem sollten wir am nächsten Morgen zurück in Richtung ABC aufbrechen. Dafür gab es zweierlei Gründe: Einerseits findet die Akklimatisierung ab einer gewissen Höhe nicht mehr beim Aufstieg, sondern erst verzögert auf tieferen Höhen statt. Anderseits mussten wir uns auch einfach ausruhen, bevor wir den Gipfel wagen konnten – und Erholung gibt es auf dieser Höhe halt nicht mehr wirklich. So stiegen wir bei perfektem Gipfeltag-Wetter zum Camp 2 ab, wo es als Seilschaft weiterging. Da ich beim Aufstieg ganz hinten in war, durfte ich nun die Führung übernehmen. Das "durfte" wurde aber ziemlich schnell zu einem "musste", denn ich konnte weder das Tempo vorgeben noch hatte ich sonst irgendwelche Kontrolle. Einige meiner Gruppenmitglieder waren so erschöpft, dass es nur noch im absoluten Schneckentempo den Berg runter ging. Wenn immer uns eine Seilschaft entgegenkam, hiess es auf die Seite stehen und eine Pause machen. Denn durch den Tiefschnee an der anderen Gruppe vorbeizugehen, wäre eine zu grosse Anstrengung gewesen. Eines wurde mir klar an diesem Tag: Bergführer wäre kein Job für mich. Etwas weiter links von uns sah ich plötzlich jemanden vor einer Gletscherspalte liegen. Ein Fähnchen vor dem Kopf und eines hinter den Füssen. Ich brauchte einige Sekunden, um zu verstehen, was dies bedeutete. Später erzählte uns Andre, dass der Koreaner, bei dessen Rettung er mithalf, zwar überlebte, aber nicht so einer seiner Kollegen. Markus vermutete, dass wenn niemand für seinen Abtransport zahlen wird, dieser in der Gletscherspalte versenkt werden würde. Im ABC angekommen, entschied ich mich mit Markus weiter ins Base Camp abzusteigen, weil dort die Ruhetage noch effektiver sein würden. Es war bereits späterer Nachmittag und für einmal waren wir beinahe alleine unterwegs. Nach den Tagen im Schnee genoss ich all die verschiedenen Farben Kirgistans wieder von neuem.
Die zwei Tage im Base Camp taten mir wirklich gut. Ich schlief so tief wie lange nicht mehr, duschte und mein Ruhepuls sank erstmals seit Beginn der Expedition unter fünfzig Schläge pro Minute. Auch genoss ich es, wieder zu lesen und klar denken zu können. Auf Höhen über 5000 Metern ist dafür schlicht keine Energie vorhanden. Dort gibt es hauptsächlich Notwendiges und Schlaf. Auch wenn der Mensch in diesen Höhen überleben kann, ist er doch nicht dafür geschaffen. In einer Besprechung wurde der Gipfeltag auf Montag gesetzt. Jarek und Magda entschieden sich, keinen Gipfelversuch zu unternehmen und stattdessen Kirgistan zu bereisen. Andre machte uns klar, dass der Gipfeltag für uns alle grosse Strapazen bedeuten würde. Zum Gipfel hoch solle es zehn Stunden dauern, zum Camp zurück weitere fünf. Und dies natürlich bei starkem Wind, denn auf dem Grat sei man stark exponiert. Wir sollen uns gut überlegen, ob wir uns das zutrauen. Felix fragte Andre dann, ob er denn schon mal mit schwächeren Leuten als Jürgen auf dem Gipfel war. Vermutlich wollte er neue Hoffnungen schöpfen, die Andre aber mit einem klaren "Nein" zunichtemachte.
Nachdem mein Magen sich immer wieder bemerkbar gemacht hatte, war es eigentlich keine grosse Überraschung, als ich im ABC das erste Mal Durchfall hatte. Nur der Zeitpunkt war halt ziemlich ungünstig, was Andre diplomatisch in einem "Now?!" zusammenfasste. Ansonsten verlief der Aufstieg vom Base Camp zum Camp 2 ohne Ereignisse. Im Camp 2 dann die ungemütliche Überraschung: Unsere Schlafsäcke sowie weitere Ausrüstung befanden sich nicht mehr in unserem Zelt. Kurz darauf stellten wir fest, dass diese nicht etwa gestohlen, sondern in einem der Zelte gesammelt wurde. Michael und Magda, die verzögert zu den Hochlagern aufgestiegen waren, hatten scheinbar unsere Zelte benutzt und ein ziemliches Chaos hinterlassen. Plötzlich war ich nicht mehr sicher, ob ich denn nun meine Daunenhandschuhe und -hosen wirklich im Camp 3 deponiert hatte oder ob die nun fehlten. Weil die Kommunikation per Funk nicht wirklich funktionierte, blieb diese Frage dann auch ungeklärt.
Auf dem Weg zum Camp 3 fühlte ich mich nicht besonders fit und versuchte auch nicht mehr, Andre auf Schritt und Tritt zu folgen. Im Camp angelegt, traf ich auf Michael. Dieser hatte es am Vortrag nur mit Mühe ins Camp geschafft. Weil sich seine Werte jedoch nicht verbessert hatten, musste er ohne Gipfelversuch absteigen. Da wir am nächsten Tag um 2:00 Uhr in der Früh aufbrechen wollten, verbrachte ich die meiste Zeit damit, Schnee für den Gipfeltag zu schmelzen. Dieses verteilte ich in kleinen PET-Flaschen, die ich auf der Innenseite meiner Daunenjacke verstauen würde, sowie meiner Thermoskanne. Nachdem ich meinen Rucksack gepackt und alle temperaturempfindlichen Gegenstände im Schlafsack verstaut hatte, sprach ich noch eine Weile mit Markus. Wir waren beide froh, dass der Gipfeltag nun endlich anstand. All die Anstrengungen, der Schnee, die Hitze und Kälte, die Gefahren, das fragwürdige Essen und die Magenprobleme haben an uns gezerrt. Nun war es Zeit. Zeit für den Gipfel und Zeit um schlafen zu gehen.
Die Nacht war windig. Wach lag ich da und zählte die Minuten, bis der Wecker endlich um 1:15 Uhr klingelte. 45 Minuten sollten doch reichen, um sich bereitzumachen, dachte ich am Vorabend. Doch natürlich reichte das nicht. Die Daunenjacke, in der ich mich schon so aufgeblasen fühlte, wurde noch deutlich unbeweglicher, nachdem ich sie mit meinen PET-Flaschen, Snacks, Kamera und Smartphone bestückt hatte. Gefrorene Expeditionsschuhe anzuziehen, ist auch so seine Sache. Und dummerweise hatte ich am Vorabend auch nicht die Idee, schon mal den Klettergurt für die Daunenhosen einzustellen. Dazu kam natürlich auch, dass während ich mich bereitmachte, Markus mangels Platz kaum was machen konnte. Kurz: Alles brauchte länger, als wir uns das vorstellten. Unseren Bergführern ging dann irgendwann die Geduld aus, hatten sie uns doch extra noch ermahnt, pünktlich zu sein und entschieden sich, nochmals in ihr Zelt zu gehen. Das Problem dabei? Als dann doch mal alle bereit waren, wussten wir nicht, welches der Zelte denn ihres war. Mit einer halben Stunde Verspätung brachen wird dann doch noch auf. In einem viel zu hohen Tempo ging es den Hügel runter und so wurde unsere Gruppe bereits nach kurzer Zeit geteilt. Ohne mich bewusst dafür entschieden zu haben, befand ich mich nun mit Andre und Magda in der vorderen Gruppe. Markus, Michael, Jürgen und Sascha bildeten die hintere Gruppe. 40 km/h Windgeschwindigkeit war angesagt und windig war es. Lange Zeit ging es relativ steil über schneebedeckten Stein den Berg hoch. In der Dunkelheit fehlte mir jegliches Zeitgefühl. Pausen machten wir kaum, was damit begründet wurde, dass dies in der Kälte keine gute Idee sei. Irgendwann begann sich der Himmel zu röten. Rechts von uns wurde das Pamir-Gebirge sichtbar. Links von uns der allzu gut bekannte Gletscher. Als wir dann doch mal eine Pause machten und ich einen Snickers ass, musste ich mich beinahe übergehen. Es ging weiter. Inzwischen war es 8:30 Uhr und wir waren auf 6800 Metern angelangt. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich nicht mehr anwesend war. Als ob ich eigentlich vor einem Bildschirm sass und konstant auf die Pfeiltaste nach vorne drücke, während eine Spielfigur für mich den Berg hochkletterte. Ich war mir nicht mal sicher, ob das denn nun ein besonders schlechtes Zeichen sei und als ich Andre und Magda sagte, dass ich mich nicht mehr anwesend fühlte, hängte ich sogleich die Frage an, ob das denn normal sei. Magda stellte mir einige Fragen, unter anderem wo ich gerade sei und wie ich heisse. Dass ich bei dem Quiz die volle Punktzahl hol, änderte leider nichts daran, dass Andre nach einer kurzen Pause sagte: "You have to go down." Und kurz darauf nochmals: "You have to go down." Tief in mir wehrte sich etwas, aber irgendwie war mir das doch auch egal. Ich fragte Andre noch, ob das Höhenkrankheit sei, was er mit einem "Ja" beantwortete. Dann liessen wir Magda zurück und begannen mit dem Abstieg. Nach einiger Zeit meinte Andre plötzlich so, dass es vielleicht auch einfach Erschöpfung sei. Später trafen wir auf das restliche Team, wobei mir auffiel, dass Markus fehlte.
Diesen trafen wir zurück im Camp 3. Markus war bereits nach kurzer Zeit alleine umgekehrt, weil ihm sein Magen zu schaffen machte. Er war versucht, nur kurz eine Pause zu machen und realisierte dabei, dass so Leute ums Leben kommen. Alleine, nur mal schnell eine Pause und dann überkommt dich die Müdigkeit und die Kälte gibt dir den Rest. Auf dem Rückweg ist er mit einem Bein in einer Gletscherspalte eingebrochen. Die letzten Meter zum Zelt machte er auf allen vieren. Am Tag darauf empfingen wir Jürgen, Michael, Magda und Sascha im Camp 2. Die vier hatten es tatsächlich auf den Gipfel geschafft. Jürgen musste dafür jedoch einen heftigen Preis bezahlen. Unterwegs verlor er seine Steigeisen und musste seine Fäustlinge ausziehen, damit er diese wieder befestigen konnte. Seine Finger waren nun braun-grau gefärbt und einige davon auf knapp den doppelten Durchmesser angeschwollen. Sein linker Daumen platze im Camp 2 auf und begann zu bluten. Nur knapp ist er an einer Erfrierung 3. Grades vorbeigekommen und kann somit auf eine Genesung in den nächsten Monaten rechnen.
Für einige Tage mochte es mich ziemlich, dass ich es nicht auf den Gipfel schaffte. Ich glaube, es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, dass ich von den Teilnehmern die beste Chance hatte, auf den Gipfel zu kommen. Selbst wenn ich mich nicht besonders fit fühlte, war ich immer vorne dabei. Nach dem Gipfelversuch fragte ich Andre, ob er das hat kommen sehen und er meinte, dass er mir 85% Chance gegeben hatte. Und trotzdem hat es nicht geklappt. Ich denke, dass mir genau die Energie, welche mir der Durchfall geraubt hat, am Gipfeltag gefehlt hat. In diesen Höhen gibt es für solche Sachen einfach keinen Spielraum mehr. Und doch frage ich mich ab und zu, ob es vielleicht doch geschafft hätte, wenn ich meine Probleme für mich behalten hätte. Und gleichzeitig weiss ich, dass es richtig war, darüber zu sprechen. Es hat genügend Unfälle in dieser Saison geben.
Würde ich es wieder machen? Würde ich es nochmals gleich machen? Ja und nein. Ich bin es gewohnt, meine Abenteuer selbst zu planen und selbst durchzuführen. Als ich die Expedition buchte, fühlte sich das schon irgendwie falsch an. So à la, hättest du lieber Full-Package Ferien am Meer oder auf dem Peak Lenin? Viele scheinbare Kleinigkeiten, die aber an einem Berg wie dem Peak Lenin doch entscheidend sind und von der Agentur übernommen wurden, liefen schief oder unschön ab, was mir immer wieder unnötig Energie kostetet. Falls ich mich in Zukunft wieder auf ein solches Abenteuer einlasse, will ich mich nicht mehr auf Leute verlassen müssen, die ich nicht kenne. Was ich auch fragwürdig finde, aber bei solchen Expeditionen wohl normal ist, war, dass es nur den einen Tag für den Gipfelversuch gab. Nachdem ich so viel Zeit investiert hatte, sollte mir der Erfolg versagt bleiben, weil ich an dem einen Tag gerade nicht in Bestform war. Hätte ich das Unterfangen selbst geplant gehabt, hätte ich den Gipfeltag entweder verschieben oder nach einer Pause einen Zweitversuch wagen können. Dafür war im Zeitplan der Expedition keinen Raum vorhanden. Das mag alles ziemlich negativ klingen und ja, irgendwie habe ich mir die Sache etwas anders vorgestellt gehabt. Eines muss jedoch gesagt werden: Ich habe extrem viel gelernt, sowohl über mich selbst wie auch über das Höhenbergsteigen und ich hoffe, dass ich diese Erfahrungen irgendwann in den nächsten Jahren dazu nutzen kann, ein solches Unterfangen selbst durchzuführen. Ob ich nochmals auf den Peak Lenin will, weiss ich gerade noch nicht. Wohl eher nicht. Dafür gibt es in der Region einfach zu viele schönere Berge.