Griff nach dem Himmel

Nach einer Woche einfachem Essen genoss ich in Khorogh, der Hauptstadt des Pamir-Autonomiegebietes, eine exzellente indische Speise. Ein junges Paar, das mit einem Van unterwegs war, schenkte mir eine neue Schlafmatte, welche sie mit dem Van erworben und noch nie gebraucht hatten. Drei erholsame Tage später entschied ich mich, durch das Wakhan-Tal weiterzufahren. Dieses Tal ist berüchtigt für schlechte Strassen und begehrt für wunderschöne Aussichten auf die hohen Berge im Hindukusch.

Der erste Tag war nicht besonders spektakulär. Selbst die Strasse war erstaunlich gut. Dummerweise muss ich während der Suche nach einem Zeltplatz über Dornen gefahren sein. Auf jeden Fall hatte ich am nächsten Morgen einen Platten - der erste Platten überhaupt, der auch eine positive Seite hatte: Denn wenige Minuten nachdem ich mein nächtliches Versteck verlassen hatte, traf ich auf eine Gruppe Radfahrer, die gerade am Frühstücken war. Darunter befand sich auch Nicholas, mit dem ich die nächsten zwei Wochen verbringen würde. Nach einem weiteren Tag verschlechterte sich der Zustand der Strasse schlagartig. Immer wieder ging es über sogenannte Waschbrett-Strecken, gerillte Kiesstrassen, die einem ordentlich durchschüttelten. Auf der Suche nach der ebensten Stelle wechselt man dann alle paar hundert Meter von der einen zur anderen Strassenseite. Ab und zu gab es auch Sandpisten, wo man das Fahrrad wohl oder übel schieben musste. Und wer hätte es gedacht: Auf fast 3000 Metern trafen wir auf kleine, dafür aber perfekt geformte Sanddünen. Das Highlight war aber ohne Frage die Aussicht auf die Schneeberge in Afghanistan. Afghanistan ist an dieser Stelle gerade mal um die 20 Kilometer breit, weshalb wir wohl sogar einige vergletscherte Gipfel in Pakistan sahen.

Nach dem Dorf Langar arbeiteten wir uns während zwei Tagen - von lästigen Fliegen und Mücken begleitet - den 4300 Meter hohen Kahrgush-Pass hoch. Bevor wir den Grenzfluss verliessen, konnten wir auf der anderen Seite eine Kamel-Karawane beobachten und warfen noch den obligatorischen Stein nach Afghanistan. Nicht selten unterbrachen wir die Reise, um einen Blick auf das wunderschöne Bergpanorama hinter uns zu werfen. Am Abend vor der Passüberquerung campierten wir auf einer Wiese, auf der wir kurz zuvor noch unzählige Murmeltiere beobachten konnten. Kaum kamen wir in deren Sichtweise, hörten wir lautes Warngekreische und sahen orange-braune Fellknäuel über die Wiesen flitzen. Als wir dann die Zelte aufstellen wollten, zog ein heftiger Wind durch das Tal, welcher mein Zelt aus der Verankerung riss. So musste ich mich an diesem Abend erstmals mit den Abspannseilen bekannt machen, worauf das Zelt selbst bei starken Böen erstaunlich ruhig blieb.

Weil ich nicht wusste, wie ich auf die Höhe reagieren würde, wollte ich am nächsten Tag unbedingt den Pass überqueren. Ansonsten, so meine Überlegung, hätte es passieren können, dass wir in der Nacht höhenkrank hätten werden können und wir den Pass auf der falschen Seite wieder hätten runterfahren müssen. Vorerst war jedoch problematischer, dass uns die Snacks ausgingen und kein Laden in Sicht war. Lange war die Versorgungslage deutlich besser, als auf manchen Webseiten behautet, weshalb wir nie besonders viel Proviant mit uns brachten. So kam es sehr gelegen, dass wir von drei Vans eingeholt wurden, deren Besitzer wir bereits in Khorogh kennengelernt hatten und uns mit Esswaren eindeckten. Die Tafel Schokolade und die Cola, die wir geschenkt bekamen, genossen wir dann zu meiner bescheidenen 10'000-Kilometer-Party neben der Strasse. Woho, du hast richtig gelesen: zehntausend Fahrradkilometer seit meiner Abfahrt in Basel! Ich komme tatsächlich vorwärts :-) Auf viertausend Meter Höhe kamen wir das letzte Mal an einigen bewohnten Häusern vorbei. Abgesehen von einem leichten Druck auf meinen Schläfen vertrug ich die Höhe erstaunlich gut und so erreichte ich die Passhöhe ohne Schwierigkeiten. Die Abfahrt zur M41 war dank Waschbrett-Strasse mal wieder besonders unangenehm. Als wir dann von weitem das erste Auto auf der asphaltierten Strasse sahen, meinte Nicholas nur so, dass er noch nie so froh war, ein Auto zu sehen. An diesem Abend war es noch windiger als am Vorabend, weshalb wir gar nicht erst zu kochen versuchten. Weil wir kurz zuvor bei einer Familie zu einer Schale warmer, fettreicher Milch und Brot eingeladen wurden, war das jedoch auch nicht weiter tragisch.

Am nächsten Morgen erreichten wir Alichur, ein kleines Dorf auf der Hochebene, in dem wir mal wieder ein anständigen Frühstück essen sowie einkaufen konnten. Die weissen Häuser mit blauen Fensterrahmen und Türen wirkten absonderlich, wie aus einer anderen Welt. Dazu beobachteten wir Kinder, die mit improvisiertem Spielzeug spielten oder auf Esel umherritten. Den Rest der Pause verbrachte ich mal wieder damit, einen Platten am Hinterrad zu flicken. Kaum war ich damit fertig, realisierte ich, dass es um mein Vorderrad nicht besser stand. Dass meine Reifen nicht besonders gut mit unbefestigten Strassen klarkommen, musste ich schon in der Türkei lernen. Aber gleich fünf Platten in zwei Wochen? I weiss ja net.

Nachdem wir mehrere Tage über echt mühsame Strassen gefahren waren, genossen wir es so richtig, über den Asphalt zu sausen - bis es dann am späteren Nachmittag zu regnen begann. Weil wir keine Lust auf Camping im Regen hatten, entschieden wir uns, bis nach Murghab weiterzufahren. So ging es bei hohem Tempo 30 Kilometer durch starken Regen. Die Strasse verwandelte sich zu einem Bach und schon bald waren unsere Schuhe komplett durchnässt. Die kalten Regentropfen schmerzten mir auf meiner Unterlippe, welche in der letzten Woche viel zu viel Sonne und Wind abbekommen hatte und inzwischen einen grün-gelben Farbton angenommen hatte. Als wir dann endlich in Murghab ankamen, fror ich und war ich am Ende meiner Kräfte. Nur zur Verwunderung über die Ortschaft, in der wir gerade ankamen, hatte ich noch genügend Energie. Die Stromversorgung war gerade kaputt, weshalb die meisten Unterkünfte einen Generator betrieben, der jedoch nur für einige Stunden pro Tag lief. Das westliche Klo musste mit einer Kelle gespült werden. Internet gab es im ganzen Dorf keines. Der Bazar, bei dem wir am Tag darauf Proviant einkauften, bestand aus einer Sammlung Frachtcontainer. Wie Alichur einfach eine Welt für sich.

Am Tag darauf ging es weiter über die Hochebene in Richtung Ak-Baital-Pass, mit 4655 Metern über Meer der höchste Pass dieser Reise. Die Steigung ist jedoch bis kurz vor Passhöhe so gering, dass alleine die Höhe als Herausforderung gelten kann. Kurz bevor die Strasse steiler wurde, stellten wir unsere Zelte auf. Nachdem ich in Murghab zwei Nächte schlecht geschlafen hatte, muss ich an diesem Abend bereits kurz nach 19 Uhr eingeschlafen sein. In der Ruhe der Natur schläft es sich halt einfach besser. Die letzten 300 Meter nahmen wir am frühen Morgen in Angriff. Oben angekommen trafen wir mal wieder auf unsere Van-Freunde und entscheiden uns, gemeinsam einen kleinen Berg neben dem Pass zu besteigen. Für fünftausend Meter hat es leider nicht gereicht, aber mit 4940 Metern auf dem Gipfel kamen wir dieser unsichtbaren Grenze gefährlich nahe. Nicholas lies seinen Drachen steigen und wir genossen die Aussicht. An diesem Tag hatte ich einen wichtigen, für mich den vielleicht wichtigsten, Meilenstein dieser Reise erreicht. Seit ich von diesem Pass gehört hatte, war ich fasziniert von der Vorstellung, diesen mit dem Fahrrad zu überqueren. Nun war es geschafft. Auch wenn zu diesem Zeitpunkt das grösste Land der Reise noch vor mir lag, zeichnete sich damit auch ab, dass es auch ein Ende geben wird. Nach fast fünf Monaten unterwegs eine komische Vorstellung.

Die Abfahrt wurde abrupt unterbrochen. Nicholas meinte später, dass er vor sich plötzlich eine Staubwolke sah - und ich lag darin. Das linke Knie blutete, die rechte Hand schmerzte, in den Hosen klaffte ein grosses Loch, die Fahrradklingel hat sich verabschiedet. Nach der Euphorie auf der Passhöhe war ich wohl etwas zu übermütig unterwegs. Auf jeden Fall konnte ich dem tiefen Kies nicht mehr rechtzeitig ausweichen und schon bevor ich am Boden lag, war mir klar, dass ich gleich fliegen werde. Alles in allem hatte ich jedoch Glück: Der Schmerz in der Hand war nach einem Tag grösstenteils verschwunden, mein Knie verheilte gut und selbst das Fahrrad trug keinen ernsthaften Schaden davon. Wenig später wurden wir in eine Jurte eingeladen, was mir gerade sehr willkommen war. Frisch gestärkt fuhren wir an diesem Tag noch bis nach Karakul, das vor einem tiefblauen See und schönen Schneebergen liegt.

Tadschikistan konnte uns bis an die Grenze zu Kirgistan noch ein letztes Mal verblüffen. Ein Abschnitt war karg-grau wie auf dem Mond, darauf folgte ein Abschnitt, der auch aus der Wüste hätte stammen können. Abgeschlossen wurde das Farbspiel mit rotem Gestein. Wie schon die Tage zuvor befand sich auf der rechten Seite der Grenzzaun zu China, löchrig wie ein Schweizer Käse. Beim Grenzposten angekommen hätten wir wohl auch einfach unbemerkt durchlaufen können. Viele der Grenzgebäude hatten eingebrochene Scheiben oder waren sonst in einem desolaten Zustand. Auf einem Volleyball-Feld lagen zwei Hunde. Erst nach einigem Suchen fanden wir das Gebäude, wo uns der Ausreisestempel in die Pässe gedrückt wurde. An unserem Gepäck war man auch dieses Mal nicht weiter interessiert.

In Tadschikistan dominierten im Gebirge die Farben Weiss, Grau, Rot und Braun. Der erste Eindruck von Kirgistan war vor allem grün, Pflanzen sowie Gestein, und rot, Gestein sowie Wasser. Selbst die Murmeltiere machten plötzlich einen fetteren und lahmeren Eindruck. In Tadschikistan konnten wir sie oft nur aus weiter Entfernung beobachten, nun waren sie beinahe in Griffnähe. Nach einer gewohnt holprigen Abfahrt waren wir von weiten, saftigen Wiesen umgeben, auf denen unzählige weisse Jurten standen und Kühe weideten. Dazu kamen Pferdeherden, die sich frei über die Ebene bewegten. Idyllisch.

Seit ich meine Route durch das Pamirgebirge gelegt hatte, hatte ich den Wunsch, dieses nicht nur zu durchfahren, sondern auch einen hohen Berg zu besteigen. Lange spielte ich mit dem Gedanken, den 7000er Peak Lenin zu besteigen, der auf der Grenze zwischen Tadschikistan und Kirgistan liegt. Als ich dann Nicholas traf, der von dieser Idee ebenso begeistert war wie ich, schien es dafür erstmals eine echte Chance zu geben. Um die Ausrüstung zu besorgen, nahmen wir ein Sammeltaxi von Sary-Tash nach Osh. Osh, wurde mir gesagt, sei der ideale Ort, um ein solches Unterfangen zu organisieren. Die Leute im Hostel sahen das schon etwas skeptischer, riefen aber sogleich beim Peak Lenin Base Camp an. Die Frau am anderen Ende der Leitung meinte, dass wir die Ausrüstung im Base Camp auftreiben können. Sie würde mit dem Militär sprechen und ihnen mitteilen, dass wir das notwendige Permit nachgeliefert bekommen würden. Wenige Minuten später hatte sie plötzlich ihre Meinung geändert, weshalb wir der grössten Agentur im Base Camp anriefen. Anstatt eine Lösung für das Permit zu finden, zerschlug diese jedoch unsere Hoffnung, die Ausrüstung im Camp organisieren zu können. Und was das Permit angehe, das Militär sei gerade vor Ort gewesen und habe alle Teilnehmer überprüft. In Osh selbst war die Ausrüstung leider auch nicht aufzutreiben. Für das Permit hätten wir 5-6 Tage warten müssen, was unsere Akklimatisierung gefährdet und uns doch keine Garantie auf Ausrüstung gegeben hätte. Wir mussten uns eingestehen, dass ohne deutlich grösseren zeitlichen und finanzieller Aufwand nichts aus dieser Idee werden würde. Die Enttäuschung war entsprechend.

So ging es am Tag darauf mit einem weiteren Sammeltaxi, das wir erst nach längerem Suchen fanden, zurück nach Sary-Tash. Der Fahrer fuhr wie ein Verrückter durch die Berge. Der Kofferraum war halb voll mit Wodka. Angurten konnte ich mich nicht und ich war echt froh, als ich wieder festen Boden unter meinen Füssen hatte. Zurück im Gästehaus, wo wir unsere Fahrräder liessen, war es zu spät für die Weiterfahrt. Am nächsten Morgen Morgen hatte Nicholas Magenprobleme - irgendwann erwischt es in Zentralasien jeden - und so entschied er sich, per Autostopp nach Kashgar weiterzureisen. Ich hingegen setzte mich auf das Fahrrad und machte mich auf den Weg nach China.

Das hintere Wakhan-Tal und das Pamirhochgebirge haben mir sehr gut gefallen und gehören ohne Frage zu den Highlights meiner Reise. Gleichzeitig war Tadschikistan aber auch das anstrengendste Land. Nur wenige Tage verliefen ohne eine Herausforderung, die es zu bestreiten galt. Mühsam fand ich, dass ich nach meinen Magenproblemen keinem Essen mehr so richtig trauen wollte. Wasser kann man filtern, beim Einkauf kann man wählerisch sein, aber bei Einladungen oder Restaurantbesuchen, die oft so oder so nur eine Option anboten, sieht das schon schwieriger aus. Nur weil etwas gut aussieht, heisst das noch lange nicht, dass man es auch vertragen wird. Eine besondere Erfahrung war auch das Camping auf der Hochebene. Für einmal machten wir uns keine Mühe, ein Versteck zu finden. Verkehr gab es dort so oder so kaum. Die Ruhe, der Wind, keine Zivilisation weit und breit.

Irgendwann will ich in diese Region zurückkehren. Ich hätte gerne mehr von Kirgistan gesehen, entschied mich dann aber dafür, meine verbleibende Zeit in China zu verbringen. Doch auch der Peak Lenin wartet noch auf mich.

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