Geduldsproben im Reich der Mitte
Sechs Stunden sollte es dauern, bis ich die Grenze von Kirgistan nach China komplett überschritten hatte. Begonnen hat es nicht ungewohnt: Um Punkt acht Stand ich vor dem Grenzübergang und bereits nach wenigen Minuten öffnete der kirgisische Grenzbeamte das Tor. Mein Pass wurde überprüft und so fuhr ich zur chinesischen Seite, wo ich etwas länger warten musste, bis auch dort das Tor geöffnet wurde. Von dort ging es, von hohen Zäunen umgeben, zum alten Grenzgebäude, wo ich in den Warteraum verwiesen wurde. Ich studierte die verschiedenen Schilder, welche den Import von Büchern genauso wie Waffen verboten und - wer hätte es gedacht - sogar eine Botschaft für mich als Radfahrer hatte. Diese lautete ungefähr: Liebe Radfahrer. Wir haben die Grenze 142 Kilometer ins Inland verlegt. Bis dort geht es hoch und runter und weil ihr den Weg so oder so nicht finden werdet, bitten wir euch, bis zum neuen Grenzübergang ein Taxi zu nehmen. Nachdem mein Gepäck gescannt und ich durch drei verschiedene Körperscanner hindurch war, bei einem davon musste ich mich auf ein Förderband stellen, durfte ich mal wieder warten und einige weitere Schilder studieren, eines davon wieder für Radfahrer. Das "Bitte" war inzwischen gestrichen und es stand klipp und klar, dass man ein Taxi nehmen muss. Irgendwann erschien auch ein Taxifahrer und zusammen mit drei Chinesen ging es dann auf die Fahrt zum neuen Grenzgebäude. China hat offiziell nur eine Zeitzone und zwar die von der Hauptstadt Peking, welche ganz im Osten liegt. Weshalb ich das erwähne? Nun, der neue Grenzübergang macht eine Mittagspause von drei Stunden und meine chinesischen Kollegen wollten natürlich unbedingt noch vor der Pause über die Grenze kommen. Nach all dem Leerlauf hätte ich das gar nicht mehr für möglich gehalten, aber bei 120 km/h in 60er-Zonen, unterstützt durch ununterbrochenes Hupen bei Überholmanövern, gab es dafür plötzlich eine reelle Chance. Wir stressten durch einen Checkpoint, an Kamelen vorbei, drängelten bei der Maut-Stelle vor, was weiter niemanden zu stören schien, und erreichten die neue Grenze tatsächlich 20 Minuten vor der Mittagspause. Das Tor wurde für uns geöffnet, doch das schien einem anderen Soldaten nicht zu passen und so schloss es auch gleich wieder. Drei Stunden später wurden wir in die nächste Wartehalle gelassen. Der ideale Ort um sich zu rasieren, wie einer der Chinesen meinte. Irgendwann waren dann auch die chinesischen Grenzbeamten satt und so stand die Passkontrolle an. Nach weiteren zwanzig Minuten war endlich der Chinese vor mir an der Reihe. Das ist insofern erwähnenswert, weil sein Pass etwa zehn mal hin- und hergereicht und davon Fotos geschossen wurden, vermutlich für eine Broschüre oder so. Dann war es soweit und ich händigte den Pass an die Dame hinter dem Schalter. Dies war der Moment, den ich über Wochen sowohl erwartet wie auch gescheut hatte. Noch war überhaupt nicht sicher, ob ich überhaupt nach China gelassen würde. Denn in meinem Pass klebte nicht etwa ein Touristen- sondern ein Geschäftsvisum. Ein Geschäftsmann auf einem Velotürchen - wie glaubwürdig ist das denn? Absolut glaubwürdig, wie die Dame fand! So glaubwürdig sogar, dass mir NICHT EINE EINZIGE Frage gestellt wurde. Um genau zu sein, wurde ich nicht einmal begrüsst und ich bin mir bis heute nicht sicher, ob die Frau überhaupt Englisch sprach. Vielleicht einfach ein Fotomodel? Egal. Das Gepäck ging noch mal durch einen Scanner und ich war, Trommelwirbel, im Land der Mitte!
In der Grenzstadt ass ich zuerst mal eine Mahlzeit, eine Art Ravioli, wenn auch mit einer ungewohnten Grünfüllung und stockte meinen Proviant auf. Schon im ersten Laden traf ich auf vakuumverpackte Hühnerfüsse und eine Menge anderer Lebensmittel, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Auf der Strasse dominierten plötzlich Elektroroller. Wenn hinten eine Frau sass, dann immer im Damensitz. Die muslimischen Frauen trugen zwar Kopftuch, aber nicht selten auch kurze Röcke. Viele Gebäude waren neu, machten aber auch einen billigen Eindruck, etwa so wie in den USA.
Auf dem Weg nach Kashgar kam ich zu meiner Überraschung an Jurten vorbei und anstatt guter Strassen, die ich mir erhofft hatte, durfte ich sowohl einen Bach durchqueren wie auch mehrere Kilometer durch Matsch fahren. Beim ersten Checkpoint schaute sich der Polizist meinen Pass an, als ob er noch nie ein solches Ding gesehen hätte. Irgendwann erinnerte er sich dann aber doch noch seiner Aufgabe und trug mich in sein Logbuch sein. Weil ich viel Zeit an der Grenze verloren hatte, reichte es mir nicht mehr nach Kashgar und so stellte ich hinter einem Erdhügel einer Baustelle mein Zelt auf, was ich in China - und erst recht im angespannten Xinjiang - wohl gar nicht dürfte und deshalb gut bedacht war, dass ich unsichtbar blieb. Am Morgen darauf hatte ich plötzlich einen Mofafahrer neben mir, der mir vom Leid der Leute klagte. Einmal sei hier das Osmanische Reich gewesen, dasselbe Volk wie in Istanbul. Doch Erdogan würde sie nicht mehr unterstützen. Es sei schwierig mit der Polizei, sehr schwierig. Dann war er wieder weg. Von der Polizei und dem Überwachungsstaat, der selbst Turkmenistan in den Schatten stellt, würde ich in den nächsten Tagen noch viel zu sehen bekommen. Als ich Kashgar näher kam, nahmen die Überwachungskameras zu. Obwohl ich mich lediglich auf einem kleinen Weg neben der Autobahn befand, der hauptsächlich von Rollern befahren wurde, kam ich etwa alle 250 Metern an einer Kamera vorbei. Meist waren das sogar zwei Kameras, wobei sich die untere frei bewegen konnte und mit LED-Scheinwerfer ausgestattet war. Alle Tankstellen, an denen ich vorbeikam, waren befestigt als ob dort Gold gebunkert würde. Ein bisschen wie eine US-Botschaft: Stacheldraht, fette Metallrohrschranken und davor meist noch spitzige Dinger, ähnlich wie Panzersperren, einfach leichter. Dazu kamen natürlich noch die Polizisten mit Helm, Schild und Stock mit Metallspitze oder Gewehr.














Im Hostel angekommen traf ich wieder auf Nicholas. Wir besichtigten die Stadt, die Märkte und assen gutes Essen - nach Zentralasien eine echte Wohltat! In einem Telefongeschäft probierte ich chinesische Smartphones aus, welche sich, zumindest was die Software anging, als iPhone-Klone herausstellten. Um die Kleidung, welche in Einkaufszentrum verkauft wurde, stand es oft nicht besser, was an den falsch geschrieben Markennamen erkennbar war. Ab und zu wurde ich Zeuge davon, wie die Polizei die Lokalbevölkerung schikanierte. So kam es beispielsweise vor, dass diese den Elektrorollern den Weg in das Touristenzentrum versperrte - mir als ausländischem Fahrradfahrer aber den Platz freimachten. Einmal, ich war gerade auf dem Rückweg zum Hostel, spielte sich vor mir ein ganz komisches Schauspiel ab. Auf einem kleinen Platz standen plötzlich vielleicht dreissig Arbeiter, alle mit einer roten Armschleife, mit Holzkeulen oder Metallstangen, welche diese im Takt bewegten. Vor ihnen standen drei Polizisten. So schnell die Leute aufgetaucht waren, verschwanden sie auch wieder. Kurz darauf fuhren mehrere Polizeiautos mit Blinklicht vorbei. In einer Provinz, wo theoretisch jederzeit ein Aufstand denkbar ist, gibt einem das schon ein etwas komisches Gefühl. Zurück im Hostel erklärte mir der Rezeptionist, dass es sich dabei um ein tägliches Selbstverteidigungstraining handelte und ich froh sein könne, dass mich die Polizei nicht beim Fotografieren erwischt habe, ansonsten wäre meine Speicherkarte jetzt leer.























Doch für mich galt es auch, die Weiterreise zu planen. Hast du in den letzten Jahren schon mal eine Reise ohne Google geplant? Ich auch nicht. So musste ich zuerst einmal auf umständliche Weise ein VPN zum Laufen kriegen, womit sich das Internet nicht wie in den 90er-Jahren anfühlte. Zurück zur Planung: Als ich in der Schweiz abfuhr, hatte ich mir einfach China als Land als Ziel gesetzt. Ein Ziel mit einer Breite von 4500 Kilometern - schwer zu verpassen :-) Der Hauptgrund dafür war, dass ich schon damals wusste, dass wenn ich diese Reise auf ein halbes Jahr begrenze (Studium lässt grüssen), ich nicht durch ganz China fahren werden könne, ich aber eigentlich gerne trotzdem bis in den Osten kommen würde. Und glaub mir: Sobald man sich die Möglichkeit zulässt, einige Gebiete mit ÖV zu überspringen, wird die Planung gleich viel schwieriger. Anstatt zwei bis drei gibt es plötzlich unendlich viele mögliche Routen. Nach einigem Hin und Her habe ich mich dafür entschieden, in dem Tian-Shan-Gebirge nochmals die Höhe zu suchen und dann von Xi'an nach Peking zu radeln. Die Route nach Peking ist zwar sicherlich nicht die landschaftlich schönste Strecke, aber einerseits reizte mich Peking und anderseits wollte ich doch auch mal noch etwas von der Weltfabrik zu sehen bekommen - eine Idee, die ich wohl schon bald verfluchen würde.
Weil mir gesagt wurde, dass ich mein Fahrrad nicht einfach in den Zug nehmen könne, entschied ich mich, einen Bus nach Korla nehmen. Als ich dann bei der Bustation ankam, musste ich erfahren, dass es mit Bussen auch nicht nur einfach ist: Der Gepäckraum sei voll, ich solle doch in acht Stunden wieder kommen und stattdessen den Nachtbus nehmen. Das zweite Mal hatte ich mehr Glück. Das "Bett" stellte sich zwar als etwas klein geraten heraus, würde aber für eine Nacht genügen. Draussen gewitterte es und bei jedem Blitz erstrahlte die weite Ebene der Taklamakan-Wüste in weissem Glanz. Nach 17 anstatt 14 Stunden kamen wir dann tatsächlich in Korla an. Korla, auf meiner Karte eine unscheinbare Ortschaft, stellte sich als Halbmillionenstadt mit unzähligen Wolkenkratzern, jeder davon weit höher als der Prime Tower, heraus. Nachdem ich mein Fahrrad bepackt hatte, machte ich mich auf den Weg in die Berge. Doch am nächsten Morgen wurden meinen Plänen ein abruptes Ende gesetzt: Ich kam mal wieder bei einem Checkpoint an, wurde nach meinem Pass gefragt und darauf in ein Gebäude geboten. Anstatt dass ich dort registriert wurde, wie manchmal üblich, fragte mich der Polizist zuerst nach meinem Ziel und erklärte mir dann mit einem Übersetzungsapp, dass er mich als Ausländer wegen irgendeiner Militäranlage nicht durchlassen dürfe. Meine Erklärungen, dass ich doch nur in die Berge wolle, stiessen auf Granit. Ich und mein Fahrrad sowie einige Seiten meines Passes, insbesondere das Iran-Visum, wurden ausgiebig fotografiert und dann blieb mir nichts anderes übrig, als die 70 Kilometer nach Korla zurückzufahren. Zeit genug um sich die Frage zu stellen, weshalb die ihre Militäranlagen ausgerechnet in/vor die schönen Berge stellen müssen, wenn sich daneben die zweitgrösste Sandwüste der Welt befindet. Kurz habe ich mir noch überlegt, das Gebirge zu umfahren und nach Turpan, einer der tiefsten Punkte der Erde, zu gehen, aber weil die Strecke ansonsten nicht viel zu bieten hatte, entschied ich mich stattdessen direkt einen Zug nach Xi'an zu nehmen. Nach einigen Abklärungen am Bahnhof kaufte ich mir ein Ticket für den nächsten Tag, gab mein Fahrrad auf und suchte mir ein Hostel.
Im Hostel traf ich auf zwei Chinesen, mit denen ich den Abend verbrachte. Hui war gerade auf einer Weltreise, die er sich mit Videos davon, welche er auf einer chinesischen Videoplattform hochlädt, finanzierte. Ich war zuerst etwas skeptisch, dass das wirklich funktioniert, aber er hat mir versichert, dass er so auf seiner letzten Reise ungefähr tausend Dollar pro Monat verdient hat. Als wir zusammen durch die Stadt und Märkte streiften, war er dann auch die halbe Zeit damit beschäftigt, mit seiner GoPro-Kamera irgendwelche Videos aufzunehmen und zu kommentieren. Obwohl sein Englisch eigentlich ganz gut war, musste ich verdutzt feststellen, dass er das Wort Kommunismus nicht kannte. Soviel zum Zustand des Kommunismus in China! Der andere Chinese war gerade auf einer Fahrradtour und kam - wenig überraschend - vom Gebirge, wo ich als Ausländer nicht durchgelassen wurde. Als ich dann von einer jungen Frau um ein Selfie gebeten wurde, mussten die beiden lernen, dass es trotzdem auch seine Vorzüge hat, als Ausländer in China unterwegs zu sein :-)
Am nächsten Tag war dann meine bisher längste Zugfahrt angesagt: Zwei Nächte und 34 Stunden Fahrt lagen vor mir. Die Betten waren deutlich grösser und bequemer als im Bus. Etwas ungewohnt war, dass die 6er-Abteile keine Türen hatten und dass aus den Lautsprechern des Zuges immer mal wieder Musik erklang. Die angenehme Melodie vor jeder Ansprache stellte sich als Ohrwurm heraus. Anders als man vielleicht erwarten könnte, genoss ich diese Stunden im Zug. Seit langem hab ich mir nicht mehr die Zeit genommen, einfach mal wieder ein Buch zu lesen. Als dann in der Nacht die Lichter abgeschaltet wurden, schaute sich die Frau neben mir auf ihrem Smartphone in voller Lautstärke einen Film an. Wie löst man ein solches Problem ohne Sprachkenntnisse? Ganz einfach: Eigene Kopfhörer anbieten! Als wäre dies das normalste der Welt, stöpselte sich die Frau meine Kopfhörer ein und schaute den Film weiter.
Xi'an stellte sich als Stadt heraus, wie ich mir eine geschichtsträchtige chinesische Stadt vorstellte: Historische Gebäude mit geschwungenen Dächern umgeben von modernsten Hochhäusern. Dazu kommt ein Markt, in dem man sofort in eine andere Welt abtaucht. Ich besichtigte die Terrakotta-Krieger, bei denen es sich um 8'000 Tonstatuen handelt, die sich ein Kaiser für seine Zeit im Jenseits bauen liess. Jeder dieser Krieger übernahm das Gesicht des Sklaven, der ihn formte. Um diese Armee geheim zu halten, mussten die Sklaven nach der Arbeit ihr Leben lassen. Einen meiner Abende verbrachte ich mit einer Gruppe Engländer. Nachdem ich in Zentralasien einer von vielen verrückten Reisender war, waren diese ganz entzückt über mein Abenteuer :-) Spätestens als wir uns auf dem Weg zurück ins Hostel in die U-Bahn quetschten, musste ich meine Vorstellung von den lauten Chinesen revidieren - im Vergleich zu angetrunken Engländern sind die also echt harmlos…























Meine ersten Eindrücke von China sind sehr vielfältig. Besonders gut schmeckt mir das Essen und auch wenn ich mich bisher noch nicht an Hühnerfüsse gewagt habe, probiere ich praktisch täglich etwas neues aus. Irgendwie gefällt mir die direkte, ungezwungene und kecke Art der Chinesen, der Verzicht auf viele Sitten, die in Europa so eingesessen sind. Viele Leute hier tragen T-Shirts mit Aufschriften wie "Own your life", "Just do it", "So far so lucky" oder "I don't care anymore". Auch wenn ich bezweifle, dass die meisten Träger die Sprüche überhaupt verstehen, scheinen diese doch ein bisschen das Motto der wachsenden Mittelschicht zu repräsentieren. Beispiel: In Xi'an gibt es eine grosse Brunnenanlage. Früher einmal durfte man diese begehen. Irgendwann wurde das verboten, was nun von Aufsichtspersonal kontrolliert wird. Das interessiert viele Chinesen aber überhaupt nicht. Kaum wird eine Selfie-Gruppe aus dem Brunnen gepfiffen, macht sich die nächste Gruppe direkt hinter dem Wächter in den Brunnen. Man kann davon halten, was man will - ich finde es amüsant :-) Auch in China gab es wieder viele Momente, wo ich kurz verdutzt innehalten musste. Wenn man einen Laden betritt, wird man ab und zu von einer digitalen Stimme begrüsst. Putzfahrzeuge spielen beim Fahren durch die Strassen eine Melodie. Kleinkinder haben meist Hosen ohne Hosenboden an.
So. Ich hoffe mal, dass die chinesischen Behörden hier nicht mitlesen. Ansonsten dürfte es Ärger bei der Ausreise geben!