Einige Nachgedanken
Neben mir ziehen die Wolken vorbei. Ich sitze im Flieger nach Moskau. Sechs Monate war ich unterwegs. Sechs Monate werden im Eiltempo zurückgespult. Vermutlich werde ich mich nach einigen Anfangsschwierigkeiten wieder nahtlos in die Gesellschaft einfügen und nur ein altes Fahrrad, Fotos sowie dieser Blog werden mich daran erinnern, dass es mal eine Zeit gab, wo dies anders war.
Noch sind einige Erlebnisse frisch, doch merke ich schon, wie sich diese in Geschichten verwandeln. Geschichten, die auch ein anderer erlebt haben könnte, worauf ich aber den Anspruch habe. Geschichten, die sich mit jeder Erzählung weiter von der erlebten Wahrheit entfernen werden. Wenn ich an meine Zeit an der Donau zurückdenke und nicht wüsste, dass das gerade mal ein halbes Jahr her ist, könntest du mir problemlos glaubhaft machen, dass diese schon Jahre zurückliegt. War das überhaupt ich, der diese Strecke gefahren ist? Es fühlt sich wie ein Traum an, aus dem ich gerade aufwache. Hoffentlich wird das Aufstehen nicht allzu mühsam.
Im Alltag vergehen die Wochen und Monate. Plötzlich stellt man fest, dass schon wieder ein halbes Jahr vorbei ist. Man denkt zurück, vielleicht an die Ferien oder prägende Ereignisse. Diese Reise war anders. In einem halben Jahr habe ich mehr erlebt, als ich ansonsten in Jahre erlebe. Ich realisiere, wie viel man mit seiner Lebenszeit eigentlich anfangen könnte. Wenn mich etwas abschreckt vor dem Studium, dann ist es genau dies. Mindestens drei Jahre werde ich hauptsächlich in Gebäuden verbringen. In derselben Zeit könnte ich sechs Abenteuer dieser Grössenordnung unternehmen und noch unzählige weitere Aspekte des Lebens und der Welt kennenlernen. Ich könnte die längsten Flüsse der Welt mit einem Kanu abfahren, die höchsten Berge besteigen, die Antarktis durchqueren, Monate in einem Kloster verbringen, als Volontär in einem Drittweltland arbeiten. Und was mache ich stattdessen? — Bevor ich diese Reise startete, war meine Absicht, anschliessend in einem Studium mir das Wissen zu verschaffen, um an erneuerbaren Energien zu arbeiten und schlussendlich mit einer Erfindung einen Beitrag zu unseren Energieproblemen zu leisten. Das ist noch immer mein Plan, aber plötzlich habe ich Zweifel, die ich zuvor nicht hatte. Auch wenn es diese Seite schon immer in mir gab, habe ich in den letzten Monaten gemerkt, wie gerne ich eigentlich Abenteuer habe.
Wenn ich unterwegs gefragt wurde, weshalb ich diese Reise eigentlich mache, habe irgendwann damit zu antworten begonnen, dass ich es einfach will. Punkt. Ich glaube, dass konkretere Gründe oft nur vorgeschoben werden, um einen Willen, der in unserer Gesellschaft in Frage gezogen würde, zu rechtfertigen. Im Nachhinein kann ich jedoch sagen, was mir mehr oder weniger gut gefallen hat. Nicht gefallen haben mir verkehrsreiche Strassen, grosse Steppen, gerade Strassen, langweilige Strecken ohne menschliche Kontakte und willkürliche Einschränkungen durch Polizei. Ironischerweise sind die ersten Punkte mehr oder weniger Synonyme. Verkehrsreiche Strassen sind normalerweise gerade und bieten wenig Kontaktmöglichkeiten. In Steppen wiederum sind die Strassen meist gerade. Gut gefallen haben mir hingegen die Berge, abwechslungsreiche, verlassene Landschaften, Tage, an denen ich mit einem anderen Radler unterwegs war - vorausgesetzt die Chemie stimmte - und Strecken mit kontaktfreudiger Lokalbevölkerung. Doch dann gibt es noch eine dritte Kategorie. Es gab viele Momente, die nicht besonders schön waren, die ich nur teils geniessen konnte, die nach den genannten Kriterien sogar in die erste Gruppe gehörten, die ich aber einfach erleben wollte: die Grenzerfahrungen. Darunter fallen Erlebnisse wie die Einfahrt in eine Megastadt, das Durchqueren einer Wüste, das Überqueren eines Hochgebirges und auch einfach die Reise an sich. Das Besondere an diesen Erfahrungen ist, dass ich dabei extrem viel über mich selbst lernte. Viele Situationen, die ich zuvor nur vage einschätzen konnte, scheinen nun beinahe banal. Mit jedem Erfolgserlebnis schob sich die Grenze des Machbaren weiter nach hinten. Als ich dann in China realisierte, dass ich mein Ziel erreichte hatte, war ich so stolz auf mich wie wohl noch nie in meinem Leben. Noch nie zuvor habe ich mir eine solche Aufgabe gestellt, diese alleine geplant und alleine durchgezogen. Das Risiko und die Verantwortung war meine. Es gab keinen Chef, keine Sponsoren, die Regeln setzte ich. Es gibt keinen künstlichen Bewertungskatalog. Das war mein Ding alleine. Über solche Erlebnisse werden Bücher geschrieben und Filme gedreht. So etwas zu schaffen, hat mein Selbstwertgefühl ungemein gestärkt. Fast alles scheint plötzlich machbar und in Reichweite. Falls ich mal Kinder haben sollte, werden diese auf dem Pausenplatz sagen können: "Mi Papi isch im Fau mau mitem Velo nach China gfahre!" I like it :-)
Rückblickend war für mich der abenteuerliche und sportliche Aspekt der Reise deutlich wichtiger als der kulturelle. Das heisst nicht, dass ich mich für die Kultur nicht interessiert hätte, aber mein Bedürfnis dafür war oft ziemlich schnell gestillt. Ich musste feststellen, dass ich mit den meisten "Top-Sights" nicht besonders viel anstellen konnte, was ziemlich ironisch ist, wenn man bedenkt, dass ich meine Route oft an diesen orientiert habe. Ausnahmen waren etwa die Chinesische Mauer, die Stadt Bukhara in Usbekistan oder das Parlamentsgebäude in Budapest. Was ich hingegen sehr interessant fand, war zu sehen und zu erleben, wie die Leute in den verschiedenen Ländern leben. Etwa mit wie wenig Geld die Leute auf dem Land leben können. Ich bin von Leuten eingeladen worden, die sich laut Statistik nur knapp über der Armutsgrenze befinden. So richtig bewusst wurde ich mir das aber erst, als mir ein Mann in Usbekistan beim Abendessen erzählte, dass er mit seinem Lohn von 120 Dollar im Monat eigentlich ganz zufrieden sei. Er lebte sicherlich in einem einfachen Zuhause, aber trotzdem fühlte es sich nicht ärmlich an. Dann traf ich aber auch auf Leute, die mit einem Leiden auf eine Art und Weise leben mussten, wie man sich das in Europa kaum vorstellen könnte. Einmal sah ich im Iran einen Mann, dem die Beine fehlte und sich auf einem Brett mit kleinen Rädern über die Strasse ziehen musste. Im gleichen Land traf ich auf einen Lastwagenfahrer, dem viele Zähne fehlten und den ich auf etwa 40 Jahre geschätzt hätte - bis sich herausstellte, dass wir gleich alt waren. In Georgien wiederum sah ich einen Mann mit einem fussballgrossen Tumor, der an seinem Hals hängte. Harmlos aber dafür allgegenwärtig sind die Goldzähne in den Ex-Sowjetrepubliken. Meist sind das aber nicht einzelne Zähne, sondern ganze Zahnreihen, die ersetzt wurden. Irgendwie schien es mir, als ob der tiefe Wohlstand eigentlich gar nicht so schlimm ist, ausser aber man hat Pech im Leben. Der tiefe Wohlstand, aber wohl auch die höhere Religiosität, setzen hingegen dem Leben einen anderen Zeitplan. Familien werden deutlich früher gegründet, womit auch die individuelle Freiheit aufgegeben wird. Der einzige Traum, dem ich immer wieder begegnete, war der Traum nach einem Studium oder Arbeit in Europa.
An diesem Punkt schulde ich den Muslimen einige Worte: Mir war klar, dass in Europa viele Vorurteile gegenüber Muslime und islamischen Länder bestehen. Ich wusste jedoch, dass die Länder, welche ich bereisen würde, einigermassen sicher sind. Was ich hingegen nicht wirklich erwartete, war, wie freundlich die Leute in diesen Ländern sein würden. In keinem anderen Land wurde ich öfters zum Essen oder Übernachten eingeladen als im Iran. In der Türkei gab es täglich mehrere Tee-Einladungen. Überraschend war auch zu sehen, wie gemässigt die meisten Leute sind. Dass ich mit kurzen Hosen unterwegs war, hat zwar einige neugierige Blicke verursacht, wurde aber toleriert. Ebenso hatte niemand ein Problem damit, dass ich währen dem Ramadan durch den Tag ass und trank. Mit einer Ausnahme wollte mich niemand bekehren oder hatte etwas daran auszusetzen, dass ich nicht ihren Glauben teile. Im Iran wurde die Regierung mehr kritisiert als in allen anderen Ländern zusammen. In einigen islamischen Ex-Sowjetrepubliken wird regelmässiger Alkohol getrunken als bei uns in Europa, obwohl das laut dem Koran verboten ist. Vollverschleierung sah ich fast ausschliesslich als Arbeitskleidung. Kurz: Muslime sind je nach Herkunftsland sehr verschieden.
Die ersten Tage in einem neuen Land oder autonomen Gebiet waren meist die interessantesten. Sobald ich eine Grenze überschritt, gab es unzählige Veränderungen zu entdecken. Die Architektur, die Leute und sogar die Landschafte änderten sich oft schlagartig. In Serbien lag plötzlich überall Abfall. In Bulgarien sah ich täglich Kutschen. In der Türkei waren die Strassenränder wieder sauber. Überall hatte es Moscheen. Tee-Einladungen werden zur Tagesordnung. In Georgien waren die Strassen mit Schlaglöchern übersät. In Armenien hatten die Kirchen einen besonderen Stil. Als Abgrenzung zu den Nachbarn wurde die christliche Religion besonders betont. Im Iran waren die Leute besonders gastfreundlich. Alle Frauen trugen nun Kopftücher. In Turkmenistan war die Polizei und das Militär allgegenwärtig. In Usbekistan nahm man es mit der Religion wieder weniger genau. Alle wollten wissen, woher ich komme. In Tadschikistan sah man überall Plakate des Präsidenten. Wasser gab es wieder im Überfluss. In Kirgistan rannten Pferde der Strasse entlang. Das Land war wunderbar grün. In China explodierte die Essensvielfalt. Auf keiner Strasse fehlten die Elektroroller. Dies sind alles Beispiele für banale Veränderungen, die meist unmittelbar nach der Grenze sichtbar wurden. Wenn man eine solch weite Distanz mit dem Fahrrad gefahren ist, bekommt man auch eine Vorstellung von der Grösse der Welt. Du kannst ein halbes Jahr fünf Tage die Woche jeden Tag hundert Kilometer fahren und kommst damit trotzdem nicht um mehr als einen Viertel des Globus.
Interessant war auch zu hören, was die Leute jeweils über die nächsten Länder zu sagen hatten. Von Serbien bis nach Zentralasien wurde ich vor so ziemlich allen Nachbarländern gewarnt. In Bulgarien solle ich auf ja keinen Fall stur meine Tageskilometer abfahren, sondern halten, sobald ich einen sicheren Schlafplatz gefunden habe, riet mir etwa ein Motorradfahrer in Serbien. Auch vor den Roma müsse ich mich in Acht nehmen. In Bulgarien wurde ich dann ausgelacht, als ich erzählte, dass ich nach Istanbul gehen will. In der Türkei wurde ich mehrmals über den Iran gewarnt und dies selbst von einem offiziellen Grenzbeamten. Schlussendlich waren eine Schürfwunde und eine gestohlene Sonnenbrille, die ich nach einer halben Stunden zurückerhalten hatte, die "schlimmsten" Ereignisse auf dieser Reise. Ja, es gab Momente, in denen ich mich unwohl fühlte. Meist jedoch nur wegen Hunden oder dem Verkehr. Mit der Einschätzung, dass der Verkehr wohl die grösste Gefahr sein würde, lag ich also nicht ganz falsch. Es gab Situationen, wo ich mir nicht sicher bin, ob ich diese heil überstanden hätte, wenn ich nicht rechtzeitig die Strasse verlassen hätte. Die gefährlichste Situation wurde jedoch nicht durch andere Verkehrsteilnehmer verursacht, sondern durch mich selbst. Als mein Fahrrad in Usbekistan bei über 90 km/h plötzlich zu schwingen begann und diese Schwingungen beim Abbremsen noch verstärkt wurden, war es für einige Sekunden unklar, ob ich das Fahrrad noch kontrolliert zum Halten bekommen würde.
Richtig langweilig wurde es mir auf dieser Reise selten. Eigentlich dachte ich, dass ich nach zwei Wochen so ziemlich alles durchgedacht hätte, was es so zu denken gibt und ich dann öfters mit Musik fahren würde. Schlussendlich griff ich kein einziges Mal zu den Kopfhörern. Zuerst war meine Gedankenwelt noch stark von meinem früheren Alltag geprägt. Du weisst schon, die richtig wichtigen Fragen wie etwa das Design von Programmiersprachen oder APIs wollten mich einfach nicht in Ruhe lassen! Hust-hust. Ab Osteuropa beschäftigte mich die Umgebung und das Erlebte zunehmend. Als ich so ganz unerwartet an Ziehbrunnen, zerfallenen Dörfern, Pferdekarren oder Schafherden vorbeifuhr, hatte ich mehr als genügend Denkstoff zur Verfügung. Auf späteren Strecken musste ich mich hingegen so stark auf den Verkehr oder die Beschaffenheit der Strasse konzentrieren, dass ich gar nicht sagen könnte, ob ich mir da sonst noch grosse Gedanken gemacht habe. Wenn ich gut gelaunt auf einsamen Strecken unterwegs war, summte ich oft eine Melodie oder sang ein Lied - oder zumindest die drei Sätze, die ich noch präsent hatte. Manchmal griff ich dazu Töne in meiner Umgebung auf, manchmal erinnerte ich mich an ein Lied aus meiner Kindheit und ebenso oft erfand ich meine eigene Balladen.
Würde ich es wieder machen? Auf jeden Fall. Es gab jedoch Momente, wo ich dem nicht so sicher war. Eine solche Reise ist nicht einfach gut oder schlecht. Im Iran und in Turkmenistan hatte ich eine kleine Krise - eine Mid-Trip-Crisis, wie ich es später nennen sollte. Um nicht alles auf eine Karte zu setzen, gab ich das Ideal auf, die gesamte Strecke mit dem Fahrrad zu fahren. Trotzdem war während mehreren Wochen unklar, wie die Reise weitergehen würde. Obwohl ich mehr eingeladen wurde als sonst, fühlte ich mich in den weiten Steppen oft alleine. Ja, hier fehlte der Reisepartner. Wenn ich mir das so überlege, gab es deutlich mehr schwierige als schöne Momente auf dieser Reise. Vermutlich ist das aber auch einfach die Natur einer solchen Reise. Um eine halbe Stunde Abfahrt zu geniessen, muss man sich zuerst einen halben Tag den Berg hochkämpfen. Heute denke ich, dass mich diese Schwierigkeiten als Mensch weiter gebracht haben. Als etwa in China so einiges nicht am Schnürchen lief, regte mich dies kaum mehr auf. Vielleicht habe ich gelernt, mich nicht mehr ganz so ernst zu nehmen. Sicherlich habe ich gelernt, dass die Erlebnisse, wo etwas schief läuft, meist die besten Geschichten werden.
Hätte ich es anders machen sollen? Kommt darauf an. Für die Zeit, die ich mir gegeben habe, bin ich eigentlich ganz zufrieden, wie ich die Reise umgesetzt habe. Einzelne Streckenabschnitte würde ich nicht wieder fahren wollen. Wer sich jedoch überlegt, eine solche Reise zu machen und mehr Zeit hat, dem würde ich empfehlen, die meisten Visums erst unterwegs zu beantragen. Dies führt zwar zu längeren Pausen, aber nachdem man Monate unterwegs war, sind solche Zwangspausen eine gute Sache.
Das schwierigste an dieser Reise? Vermutlich die initiale Entscheidung. Womit wir wieder bei den chinesischen T-Shirts angelangt sind: Just do it!
Seitdem ich mit diesem Artikel begonnen habe, ist schon wieder eine Woche vorbeigegangen. Ja, dieser Blog hat mir viel Zeit abverlangt. Wenn ich die Wahl zwischen einem gemütlichen Abend in einem Hostel mit anderen Reisenden und Blog-Schreiben hatte, fiel mir diese oft nicht einfach. Trotzdem habe ich mich durchgerungen, etwa alle zwei Wochen meine Erlebnisse niederzuschreiben. Einerseits als Erinnerung für mich selbst, als eine Art Tagebuch, das ich wieder lesen werde, wenn ich an die guten alten Zeiten zurückdenken will. Anderseits um dich über meiner Erlebnisse auf dem Laufenden zu halten. Doch kennen wir uns überhaupt? Es würde mich echt freuen, dass wer es bis hier durchgehalten hat, mir ein kurzes Mail schreiben könnte. Mit einigen Worten über dich, falls wir uns nicht kennen, und ein einigen Worten Lob & Tadel. Wenn dir bestimmte Fotos besonders gefallen haben, lass es mich wissen. Auch wenn du irgendwelche Fragen hast, will ich diese nicht unbeantwortet lassen: joelaufreisen@gmail.com.
Danke an alle, die mich in diesem Traum unterstützt haben. Und sei es nur einige Worte gewesen, wenn ich sie benötigte. Ganz besonderen Dank an meine Freundin und meine Familie.